Zum Helfen geschaffen – Die Raumfahrt

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Zum Helfen geschaffen

Am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen entwickeln Forscher autonome humanoide Roboter mit fortgeschrittener künstlicher Intelligenz. Sie sollen künftig nicht nur Astronauten bei der Erforschung fremder Planeten unterstützen, sondern auch hier auf der Erde Senioren und Menschen mit körperlichen Einschränkungen helfen, selbstbestimmter zu leben.

Die Zukunft ist silbrig-blau, an die zwei Meter groß und rollt mit einem Staubwedel durch die Küche. „Rollin‘ Justin“ heißt der humanoide Roboter, der hier im Labor des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen Putzen lernt. Neben Einbauherd, Kühlschrank und ein paar Regalen steht eine Sofaecke mit Fernseher. Gegenüber drängen sich die Rechner des Forscherteams auf einem Tisch, Kabel schlängeln sich auf dem Boden. Eine Tür samt Zarge steht mitten im Raum. Als Übungsgerät.

„Den wenigsten ist bewusst, wie viele Entscheidungen ihr Gehirn treffen muss, um einen Tisch abzuwischen oder eine Tür zu öffnen. Auch nicht, wie viele sensorische Rückmeldungen es braucht, damit die Hand nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Druck ausübt“, erklärt Daniel Leidner, Leiter der DLR-Forschungsgruppe für semantische Planung. „Für Software und Sensoren eines Roboters ist das eine immense Herausforderung. Justin ist aber so feinfühlig, dass er sogar ein rohes Ei aufheben könnte.“

 

Behutsam fährt Justin mit dem Staubwedel über den Fernseher. Etwas später kehrt er mit einem Besen Scherben auf einen ordentlichen Haufen. Arbeitsplatten abwischen, Fenster polieren oder Dinge aus Schubladen holen – hier im Labor, wo ihm jeder Winkel einprogrammiert wurde, ist das für Justin alles kein Problem. Um sich aber in einer fremden Umgebung zurechtzufinden, muss der Roboter sein Umfeld mit Hilfe seiner Bewegungsdetektions-Sensoren und den beiden hochauflösenden Stereokameras in 3D rekonstruieren. Nur so kann er sich orientieren und selbstständig handeln.

Autonome Roboter als Vorhut für Astronauten

Und selbstständig Handeln ist das Ziel. Justin ist ein Raumfahrtprojekt und soll künftig Satelliten im Orbit reparieren oder auf fernen Planeten Habitate, Solarmodule und Kommunikationsstationen aufbauen. Als Vorhut, damit die Astronauten nach ihrer Ankunft nicht bei Null anfangen müssen. Später sollen die Roboter Außeneinsätze übernehmen und etwa die Solarpaneele reinigen und warten. Für alle diese Aufgaben muss ihre künstliche Intelligenz (KI) die Roboter jedoch weitestgehend autonom agieren lassen können: „Bei einer Mond- oder Marsmission, zum Beispiel, sollen viele Roboter gleichzeitig auf der Oberfläche arbeiten. Das geht nur, wenn nicht jeder Handgriff entweder von der Erde oder vom Orbit aus gesteuert werden muss“, erklärt Daniel Leidner. „Außerdem bräuchten Kommandos von der Erde viel zu lang, um die Roboter zu erreichen.“

 

Meteron (Multi-Purpose End-To-End Robotic Operation Network) heißt das Projekt, bei dem Rollin‘ Justin von der Internationalen Raumstation (ISS) aus unten im Oberpfaffenhofener Institut gesteuert wird. Kontrolliert wird der Roboter dabei mit einem Mix aus Telemanipulation und seiner eigenen KI. „Ich muss Justin nicht jeden Schritt vorgeben“, schrieb Astronaut Alexander Gerst im Herbst 2018 nach dem letzten Experiment begeistert in sein Weltall-Logbuch „Horizons“. „Wenn ich Justin sage, ‚Fahr zum rechten Solarpanel und reinige es!‘, dann macht der das – vielleicht besser, als ein Mensch es könnte“, schreibt Gerst. „Und ich kann mich darauf konzentrieren, die wichtigen Entscheidungen zu treffen.“

Noch ist Justin eine Forschungsplattform, aber er kann schon jetzt selbstständig mehrere Aufgaben gleichzeitig verfolgen und dabei eine logische Hierarchie einhalten. „Er kann Getränke servieren, dabei seine Umgebung im Auge behalten, vermeiden irgendwo anzustoßen, und nachgeben, wenn jemand mit ihm zusammenstößt – und das alles, ohne die Getränke zu verschütten“, sagt Leidner. Und wenn Justin eine bekannte Aufgabe wie „Hol die Dose aus der Schublade“ oder „Putz das Solarpanel“ bekommt, entscheidet er schon jetzt selbst, wie er dieses Ziel am besten erreicht. Nicht nur das: Er wertet auch aus, welche Kette von Aktionen zum besten Ergebnis führt. In Zukunft soll er diese Erfahrung beim nächsten Mal anwenden können. Cognitive Reasoning Loop, nennen die Forscher das. Bisher sei nach sechs, sieben Schritten die Fehlerquote noch zu hoch, sagt Daniel Leidner. „Die Aufgabenkette soll beliebig lang werden.“

 

Selbstständig lernende Künstliche Intelligenz

Nebenan, im Autonomous Learning Robot Lab, bringt ein weiteres DLR-Team Justin daher das selbstständige Lernen bei. „Unser Ziel ist, wirklich intelligente Roboter zu schaffen, deren Fähigkeiten der menschlichen Vielseitigkeit sehr nahekommen“, sagt Gruppenleiter Berthold Bäuml. „Mit Justin sind wir weltweit führend.“ Die neueste Version der Forschungsplattform, „Agile Justin“, ist zum Beispiel hochdynamisch und kann nicht nur zwei Bälle gleichzeitig fangen, sondern auch einen Ball gezielt werfen. Klingt wie Spielerei, ist es aber nicht: „Kinder haben erst mit etwa vier Jahren die nötige Denkgeschwindigkeit und Koordination dafür“, sagt Bäuml. Gleichzeitig statten die Wissenschaftler den Roboter gerade mit einer feinfühligen Haut aus, die es ihm ermöglicht, verschiedene Materialien zu erkennen, indem er mit dem Finger darüberstreicht. „Schon jetzt liegt er zu 86 Prozent richtig“, erzählt Bäuml stolz. „Menschen schaffen nur 34 Prozent. Wir arbeiten hier an der Weltspitze.“

 

Forschung an der Weltspitze

Es hat Tradition, dass die DLR-Raumfahrtforscher in der Robotik ganz vorn mitmischen. Angefangen hat alles 1993 mit ROTEX, kurz für „Roboter-Technologie-Experiment“ auf der Spacelab-D2-Mission. Der von Oberpfaffenhofen aus gesteuerte fing unter anderem einen frei im Space Shuttle-Labor schwebenden Würfel ein und baute mechanische Strukturen auseinander und wieder zusammen. So etwas hatte es bis dahin nicht gegeben.

Drei Jahre später steuerte ein deutsch-japanisches Forscherteam per Datenhelm und -handschuh einen Roboterarm auf dem japanischen Satelliten ETS-VII im Orbit. Daraus wurde 2005 der Roboterarm ROKVISS (Robotik-Komponenten-Verifikation auf der ISS), der bis 2010 außen an der ISS montiert war und ebenfalls per Telemanipulation von der Erde aus gesteuert wurde. Der ROKVISS-Arm bestand aus Komponenten der vom DLR entwickelten Roboter-Leichtbauarme, die heute unter anderem in der Autoindustrie eingesetzt werden. „Diese Technologie findet sich nun auch in Justins Armen wieder, erklärt Daniel Leidner. „Justins Arm ist genauso beweglich wie der menschliche Arm. Als wir Justin 2006 vorstellten, dachten alle noch, es wäre unmöglich, ein derart komplexes System zu betreiben.“

 

Roboterarm ROKVISS an der Außenwand der Internationalen Raumstation.
Fast sechs Jahre lang war der Roboterarm des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) an der Außenwand der Internationalen Raumstation im Einsatz.

 

Aber warum muss ein Roboter, der ferne Planeten erkunden helfen soll, mit Staubwedeln hantieren, Bälle werfen und Drinks servieren können? Ganz einfach: Die technischen Eigenschaften und die künstliche Intelligenz, die Justin benötigt, um im Weltall eng mit Astronauten zusammenzuarbeiten, erlauben ihm auch, Menschen hier auf der Erde sinnvoll und sicher zu unterstützen. „Justin ist es gleich, ob er ein Solarpanel putzt oder ein Fenster“, sagt Daniel Leidner. „Da er so gebaut ist wie ein Mensch und auch so beweglich ist, kann er sich im Weltraum und auf der Erde gut in für Menschen gedachten Umgebungen bewegen und dieselben Werkzeuge benutzen.“ Eine Gefahr für Menschen ist der Assistenzroboter nicht. Justins Arme und Vier-Finger-Hände sind nachgiebig und feinfühlig genug, um niemanden zu verletzen. „Wenn etwas mit ihm zusammenstößt, weicht er automatisch zurück “, erklärt Daniel Leidner.

Robotische Pflegehelfer

So entstand die Idee, die Weltraumassistenten so weiterzuentwickeln, dass sie auf der Erde Senioren, Pflegebedürftige und Menschen mit motorischen Einschränkungen im Alltag unterstützen können. Schon seit zwei Jahren arbeitet das DLR hier eng mit der Caritas in Garmisch-Partenkirchen zusammen, um herauszufinden, wie die intelligenten Roboter am besten eingesetzt werden sollten.

SMiLE (Servicerobotik für Menschen in Lebenssituationen mit Einschränkungen) heißt das Projekt. „Unsere mobilen Roboter mit ihren intuitiven Bedienkonzepten müssten sich perfekt eignen, um Pfleger zu entlasten und betroffenen Menschen mehr Selbständigkeit im Alltag zurückzugeben“, sagt Projektleiter Alexander Dietrich. Die Assistenzroboter können zudem mithilfe des Haptischen User , kurz HUG, feinfühlig ferngesteuert werden. Die Bewegungen, die der Teleoperator mit zwei Leichtbau-Roboterarmen ausführt, werden 1:1 auf Justin übertragen. Durch das haptische Rückkopplungssystem spürt der Operateur, was der ferngesteuerte Roboter tut.

Und diese Hilfe wird dringend benötigt. Derzeit sind rund drei Millionen Menschen in Deutschland auf Pflege angewiesen. Bis 2050, so die Prognosen, soll die Zahl der Pflegebedürftigen auf fünf Millionen steigen. Und schon jetzt fehlen mehrere zehntausend Fachkräfte. „Die Pflege braucht dringend neue Impulse“, sagt Georg Falterbaum, Caritas-Direktor der Erzdiözese München und Freising. „Da können Assistenzroboter für erhebliche Entlastung sorgen.“ Natürlich gebe es Kritiker, die in dem Projekt sofort eine drohende Entmenschlichung der Pflege sehen, sagt Falterbaum. „Aber der Mensch in der Pflege soll ja nicht ersetzt, sondern durch Roboter entlastet werden. Wo und in welchem Maße das sinnvoll ist, prüfen wir ja gerade.“

Schon im vergangenen Jahr habe man sowohl Pflegekräfte als auch Patienten und ihre Angehörigen intensiv befragt, ob und wie sie sich Roboter als Helfer vorstellen könnten, ergänzt Alexander Huhn, Caritas-Kreisgeschäftsführer in Garmisch-Partenkirchen. „Sie hatten überhaupt keine Berührungsängste, sondern sofort ganz viele Ideen, was die Roboter alles machen und leisten könnten. Die waren viel kreativer als wir am grünen Tisch.“

Mehr Zeit für menschliche Nähe

Alle seien sich einig, dass die Pflege ohne menschliche Zuwendung nicht funktionieren könne, aber wenn Roboter den Pflegekräften zeitraubende Tätigkeiten wie Aufräumen, Müll wegbringen, Essenswagen schieben oder Tabletten holen abnehmen, würde mehr Zeit für menschliche Nähe bleiben. „Viele vergessen auch, wie unangenehm es für Patienten sein kann, ständig andere um etwas bitten zu müssen“, so Huhn. „Vor allem nachts scheuen sich viele, die Pfleger zu wecken, wenn ihnen die Decke von den Beinen gerutscht ist. Da liegen sie dann lieber im Kalten. Bei einem Roboter gäbe es solche Hemmungen nicht.“ Genau dies sei einer der Gründe, weswegen der Roboter keine Mimik habe, erklärt Daniel Leidner. „Es ist ein Assistenzroboter, kein Ersatz für einen Menschen.“

 

Viele vergessen, wie unangenehm es sein kann, ständig andere um etwas bitten zu müssen. Bei einem Roboter gäbe es solche Hemmungen nicht.

Alexander Huhn Caritas-Kreisgeschäftsführer in Garmisch-Partenkirchen

 

Begleitet durch autonome Roboter wie Justin könnten ältere Menschen auch länger allein zu Hause zurechtkommen. „Vorteil ist hier nicht nur die Hilfe im Haushalt und die Möglichkeit, Menschen daran zu erinnern, die Tabletten pünktlich zu nehmen“, sagt DLR-Ingenieur Dietrich. „Vor allem bei Unfällen könnte die Fernsteuerung durch Telepräsenz Leben retten.“ Der Roboter kann so nicht nur sofort Hilfe herbeirufen, sondern könnte auch, ferngesteuert durch einen Arzt oder Sanitäter, schnell erste Hilfe leisten. „Da gibt es ganz viele Möglichkeiten, von eingebauten Messgeräten und Spritzen bis hin zum Defibrillator“, überlegt Caritas-Kreischef Huhn laut.

Pflegeroboter als Rollstuhl

Während Justin programmiert wird, auf Zuruf zu arbeiten, wird der Rollstuhlroboter EDAN mit Muskelsignalen gesteuert. Auf den ersten Blick sieht der „EMG-controlled daily assistant“ so aus, als hätte man einen von Justins Armen an einen Rollstuhl montiert – nur dass diese Roboterhand fünf Finger hat. „EDAN ist für Menschen mit starken motorischen Einschränkungen gedacht. An der Hautoberfläche gemessene Muskelsignale werden analysiert und dann mit sogenannten Shared-Control-Techniken umgesetzt“, erklärt Annette Hagengruber, Ingenieurin im SMiLE-Team. Dabei nutzt der Roboter seine KI und die bereits gesammelten Erfahrungen, um die Aktion teilautonom umzusetzen. „EDAN kann zum Beispiel Getränke einschenken, ein Glas reichen, Türen öffnen oder Aufzugknöpfe drücken – alles Dinge, die Menschen die Möglichkeit geben, unabhängiger zu leben“, so Hagengruber.

 

Neue, technische Berufe in der Pflege

Ein schöner Nebeneffekt sei, dass die Roboter den Pflegeberuf vielseitiger machen würden. „Da entstehen völlig neue Berufsbilder wie der Pflegetechniker oder der Tele-Pflegeassistent“, sagt Alexander Huhn. „Dann wäre das Berufsfeld auch für technik-affine junge Menschen interessanter.“ Mit dem Fernsteuersystem HUG kann ein Teleoperator Zugriff auf mehrere Roboter haben. „Und da irgendwo auf der Welt immer Tag ist, müssten sie noch nicht mal mehr Nachtschichten schieben“, sagt Daniel Leidner.

Ab August 2019 geht das SMiLE-Projekt in seine nächste Phase: Fünf Jahre lang werden EDAN und Rollin‘ Justin regelmäßig ins Caritas-Altenheim St. Vinzenz nach Garmisch-Partenkirchen reisen. Nach ein paar Wochen Praxis geht es dann zum Nachprogrammieren wieder ans DLR Institut. Die Liste der Ausbildungspunkte ist lang: „Genauso wie Hol-und-Bring-Dienste werden sie wohl auch Gedächtnistraining mit Senioren machen oder sie auf kurzen Wegen begleiten“, sagt Alexander Huhn. „Wenn EDAN nebenherfährt, werden gebrechlichere Patienten eher wagen, allein loszuziehen – die Rückfahrt ist dann ja gesichert.“ Zur Unterstützung beim Heben, Bewegen oder Stützen von Personen – alles dringende Anliegen der Pflegekräfte – eignen sich die DLR-Forschungsplattformen allerdings noch nicht. Rollin‘ Justin kann bislang nur 20 Kilogramm heben. „Das ist eher eine Aufgabe für Exoskelette, die den Pflegenden die Last abnehmen“, sagt Huhn. „Das ist aber ein anderes Forschungsprojekt.“

Mission zum Marsmond Phobos

Wie gut sich Justins KI im Weltraum bewährt, werden wir ebenfalls bald wissen: 2024 soll ein auf Justins Technologie aufgebauter Leichtbau-Rover mit der japanischen Mission MMX (Martian Moons Exploration) auf dem Marsmond Phobos landen, dort die Oberfläche analysieren und helfen, Proben zur Erde zurückzubringen. Aber auch im Weltraum werden Roboter den Menschen nicht ersetzen können, prophezeit Astronaut Alexander Gerst. „Nur Menschen können in Situationen, die niemand vorhergesehen hat, richtig reagieren. Maschinen geben uns die Möglichkeit, etwas zu erforschen. Aber erst der Mensch erfüllt diese Entdeckungen mit seiner Blickweise mit Sinn.“